Ein Bild von einem Land
von Deike Diening
Andreas Mühe befindet sich in seinem Atelier, am Telefon und in einem Zustand, den es für die meisten Fotografen gar nicht mehr gibt: Die Bilder sind gemacht, aber der Fotograf hat das Ergebnis noch nicht gesehen. Mühe weiß noch nicht, wie nahe er an das Bild, das er im Kopf hatte, herangekommen ist. Aber jetzt ist es dringend. Ob an diesem Nachmittag noch jemand in Berlin Kontaktbögen printen kann?
Es war Vollmond in der letzten Woche der Herbstferien Ende Oktober. Der Fotograf war an der Ostsee und sein eigener Darsteller. Zudem war er vollkommen nackt. 100 Meter entfernt saßen ein paar Nachtangler, „das machte mich fertig“. Aber es musste sein. Belichtungszeit zwei Sekunden. „Es war an der Zeit, etwas zu tun, was noch mehr ans persönliche Eingemachte geht.“ Die Serie Caspar-David-Friedrich-hafter Selbstporträts, textilfrei an der Ostsee, ist der neueste Coup des Fotografen Andreas Mühe.
Nacktheit fördert die Illusion, dass da einer alles zeigt und der andere alles sieht. Und trotzdem ist das Ganze inszeniert. Überhöht. Manipuliert. So wie jedes Porträt eine Illusion ist. Man glaubt ja nur, etwas über jemanden zu wissen, bloß, weil man vielleicht mehr gesehen hat als andere. In Wahrheit hat auch dort einer gezeigt, was er zeigen will, er hat dafür seine Techniken ausgespielt, eine Bildsprache, Zitate, einen Kontext. Die Bedeutung liegt irgendwo zwischen dem, was der eine zeigt und der andere sieht.
Bei Andreas Mühe sieht man, dass seine Bilder und seine Biografie auf zwingende Art mit dem Land verknüpft sind. Er hat zehn Jahre lang für große Magazine fotografiert und irgendwann etwas häufiger die Kanzlerin des wiedervereinigten Deutschland, bis man ihn zu seinem Ärger „Kanzlerfotograf“ nannte. Er hat sich die Nazi-Ästhetik vorgeknöpft und die Häuser der DDR-Bonzen in Wandlitz fotografiert. Er hat den Schauspieler Ulrich Mühe zum Vater, der mit seinem Film „Das Leben der Anderen“ ein Bild der DDR bis ans Ende der Welt getragen hat. Er ist 36 Jahre alt, er sitzt in der Fotografie-Jury des Nannen-Preises und sagt, Macht sei sein Thema. Ihre Inszenierung und Überhöhung.
Als Zehnjähriger mit Übermut zum Potsdamer Platz
Wer ihn besuchen will, muss am S-Bahnhof Wilhelmsruh erst ein Stück den Mauerweg entlanglaufen, direkt dahinter liegt das Industriegelände „PankowPark“ mit seinen Backsteinbauten. Andreas Mühe schätzt die Mischung von Gewerbe und Kunst und ordert nun in der höhlenartig schwarzen Kantine eine sächsische Kartoffelsuppe. Zeigen will er damit wahrscheinlich gar nichts, und trotzdem fällt einem natürlich sofort ein, dass Mühe im sächsischen Chemnitz geboren ist, das er beharrlich Karl-Marx-Stadt nennt.
Mühe, hieß es zuletzt in einer Ausstellung, sei Teil der dritten, also der letzten Generation Ost. Teil der Umbruchgeneration, die nur ihre Kinderjahre in der DDR verbrachte. „Was soll diese Zusammenrottung?“ dachte Mühe als Erstes. Ja, untereinander merken sie natürlich sofort, wenn gegenüber einer ist, der weiß, wovon er spricht, wenn es um die DDR geht, „aber warum soll das jetzt noch mal eine Generation sein“? Sie hatten die spezifischen Freiheiten von Kindern und mussten deshalb die fehlenden Freiheiten der Erwachsenen noch nicht vermissen. Es gab für sie ja noch keinen Vergleich. Höchstens Spurenelemente seien in ihm von der DDR noch vorhanden.
Aber hätten Spurenelemente eine solch durchschlagende Wirkung?
Als 1989 die Mauer fiel, war Andreas Mühe jedenfalls zehn. Die Wende traf zeitgleich mit dem biografisch bedingten Übermut aller Zehnjährigen ein. „Mit zehn, da fährt man ja schon Fahrrad.“ Die Eltern waren an ihren Theatern mit der Revolution beschäftigt. Die Mutter war die Regisseurin Annegret Hahn, sein Vater der bekannte Theater-Schauspieler, der jetzt mit dem größten Rollenwechsel seines Lebens zugange war. Und während der Vater den Film entdeckte, fuhr Andreas überall hin. Er und seine Freunde sausten vom Prenzlauer Berg den gefühlt irre weiten Weg bis hinunter zum Potsdamer Platz. Als andere in die Geschäfte gingen und im Westen nur Fülle sahen, blickte Andreas – in eine Wüste. Vor ihm erstreckte sich die feiste Leere des Potsdamer Platzes. Wahrscheinlich fiel noch nicht einmal ihm selber auf, dass sein Blick sich von anderen unterschied.
Der Umbruch des Landes fiel mit der Pubertät in eins, dieser Jedermann-Krise, in der einer sich von den Eltern löst. Als Andreas Mühe so weit war, fand die Ablösung von fast allem statt, was sein bisheriges Leben ausgemacht hatte. Mühe hatte ein ganzes Land mit schlagartig alt gewordenen Werten und Erwartungen zur Verfügung, von dem er sich befreien konnte. Mit einer Gruppe von Freunden trieb er durch die Stadt, niemand setzte Grenzen. Es kamen die Neunziger, der Stimmbruch, und dann war Mühe ein Mann.
Die Freunde aus den Neunzigern steckte er in SS-Uniformen
Der sitzt heute auf einem hellen Ecksofa in seinem Atelier, umgeben von einem fotografischen Werk, das seine Auseinandersetzung mit dem Land zeigt. Im Regal liegen weiße Handschuhe für die Kataloge und Abzüge, die inzwischen Tausende Euro kosten. Wahrhaft tiefe Beziehungen gebe es nur mit Freunden und Verwandten, sagt er, „alles andere ist die reine Oberfläche“.
Ein Glück, dass Andreas Mühe sich auch für Oberflächen interessiert. Ganz besonders für die. Mit der Großbildkamera macht er Hüllen deutlich, er analysiert Posen und Bildsprachen. Mühe hat mächtige Menschen in ihren Rückzugsräumen fotografiert, Menschen in Arbeitszimmern und Egon Krenz Hecken schneidend vor seinem Häuschen. Es ist ihm sogar gelungen, die Aura eines Menschen völlig ohne diesen Menschen aufzunehmen, in den leeren Arbeitszimmern der Kanzler Adenauer und Schmidt. Umgekehrt wirken seine Bilder sogar dann irgendwie menschenleer, wenn welche darauf zu sehen sind. Weil sie Posen innehaben, auf Strukturen und Konventionen verweisen.
Mühe webt heute seine Fotos in den Bildteppich der Gegenwart, es sind absichtlich produzierte Webfehler, bei denen etwas bekannt, aber zugleich etwas seltsam und gebrochen erscheint. Der letzte Webfehler, über den sich die Öffentlichkeit verstört beugte, war das Projekt „Obersalzberg“.
Mehrere Jahre lang fuhr er in der Saison immer wieder zu der gleichen Wirtin in Ramsau bei Berchtesgaden in die Berge. Er hatte seine Freunde aus den Neunzigern dabei, die ihm halfen, die Ausrüstung, die Großformat-Kameras, die Stative und das Licht durch Hitlers Landschaft zu tragen. Es herrschte eine Genauigkeit wie beim Film, inklusive Kostümen, Make-up und Catering. Mühe steckte seine Freunde in SS-Uniformen und ließ sie in der gebirgig überhöhten NS-Ästhetik vor Bergpanoramen in die schönen Alpen pinkeln. Skandal! Hatte da jemand einen Fetisch?
Ein Freund schreibt über ihn, Mühe habe „den Nazis ihre Ästhetik geklaut“. Er entwende die Bildsprache und benutze sie für seine Zwecke. Dann drücke er „mit dem Stinkefinger“ auf den Auslöser. Und tatsächlich hat sich Mühe an den Bildern des Hitler-Fotografen Walter Frentz abgearbeitet, der die historischen Bilder vom Obersalzberg geliefert hatte.
Berlin kommt ihm vor wie das Künstlerdorf Ahrenshoop
Mühe ist heute ein Mann, der zweimal die Woche vor der Arbeit mit Freunden boxt, bevor er um halb zehn runter ins Atelier geht. Seine Größe ist nicht körperlich. Über seine Themen hat er schon lange nachgedacht. Er sieht natürlich auch die dumpfe Faszination durch die Rechten im Osten. Sie ist erwachsen aus einem Tabu, aus Verbotenem und Verdrängtem. Mühe ist selbst aufgewachsen in dem Land, das nie „besiegt“, sondern „befreit“ wurde, weil seine Mitglieder nicht zur falschen Seite gehört haben durften. Ständig besuchte diese Generation mit der Schule Gedenkstätten des antifaschistischen Widerstands. Ihr Blick war – noch völlig wertfrei – von Anfang an gelenkt auf dieses Thema, diese Ästhetik, die sich dann aber mit einem Tabu verband. Möglich, dass hier ein Spurenelement aus der DDR-Kindheit Mühe ein besonderes Verständnis der Gegenwart ermöglicht.
Mühe versteht diese Faszination an den Nazis, sie wirkt ja auch auf ihn. Früh hat er begonnen, die Erholungsfabrik in Prora zu fotografieren, erst nur fasziniert von ihrem klaren, zugleich überwältigenden Aussehen. Schnell wurde er analytischer. Er sah den Herrschaftsanspruch, unterstrichen durch die Überhöhung in der Bildsprache, die Kraft in den Bildern. Dieses Vokabular der Macht durfte man unmöglich in falschen Händen lassen.
Im Jahr 2000 konnte er beruhigt anfangen zu arbeiten, sagt Mühe. Er hatte die freiesten Jahre Berlins miterlebt. Er hatte nichts verpasst, „alles, was danach kam, war im Prinzip Wiederholung“. Aber diese umfassende Entgrenzung war natürlich in Wahrheit unwiederholbar. Die Gegenwart kommt ihm heute vor wie ein schwaches Echo dieser Zeit, Berlin „wie das Künstlerdorf Ahrenshoop“.
Die alten Freunde aus den Neunzigern, die er in Nazi-Uniformen fotografierte, sind fast alle noch da, er hat sie schon ganz früh für seine ersten Bilder porträtiert. Wenn jetzt der Erste von ihnen 40 wird, fahren sie alle zusammen nach L.A.
Und so ist es bemerkenswert, dass Mühes Bilder immer den größtmöglichen politischen Radius haben, sie treffen Aussagen über das ganze Land – aber das Personal kommt aus dem engsten Familien- und Freundeskreis.
Vor zwei Jahren präsentierte Mühe das Projekt „A.M. – Deutschlandreise“: Angela Merkel war von hinten zu sehen, man blickte über ihre Schulter immer aus dem Wagenfenster heraus ins Land. Man war ihr so nah, man sah die Poren ihrer Haut.
War das die echte Merkel auf seinen Fotos?
Warum hatte da einer so viel Nähe erlaubt bekommen, und die anderen nicht? Vor der Vernissage war ein formelles Dementi des Bundespresseamtes nötig: Angela Merkel habe niemals an diesem Projekt des Künstlers mitgewirkt.
In Wahrheit war die Haut von dessen eigener Mutter zu sehen, die Mühe mit der 6×6-Kamera aufgenommen hatte. Annegret Hahn, als Regisseurin gewohnt, die Anweisungen zu geben, fürchtete sich zunächst vor einer Umkehr der Rollen. Sie habe ihn erst ein bisschen zappeln lassen und dann doch zugesagt. Und am Ende ist Andreas Mühe mit ihr als Merkel-Modell zehn Tage lang durch Deutschland gereist, und es war wie immer: Alles mischte sich. A.M. sind auch seine eigenen Initialen. Seine Familie verband sich aufs Neue mit der Kunst und dem Land. Wie Webfäden durchzog ihre Spur das Land, sie fuhren kreuz und quer und webten sich selbst in den Teppich der Gegenwart ein: Sylt, Rügen, Essen, die Oder bei Küstrin, die Loreley, und die Zugspitze. Deutsche Orte.
Je wilder die Zeiten werden, desto spannender findet Mühe die Familie als kleinste, gesellschaftliche Zelle. Das nächste Projekt wird ein Familienporträt, eine Art Familienaufstellung, mehr kann er noch nicht sagen. Seine Familie ist verzweigt, er selbst ist einer von zwei Söhnen aus der ersten Ehe des Vaters mit Annegret Hahn, aus der zweiten ging seine Halbschwester, die Schauspielerin Anna-Maria Mühe hervor, der Vater heiratete zuletzt die Schauspielerin Susanne Lothar. Es ist bemerkenswert, wie sehr diese Familie zu ihren jeweiligen politischen Systemen Bilder geschaffen hat: Sein Vater, der dem System der Stasi in „Das Leben der Anderen“ ein Gesicht gegeben hat und sich selbst damit bis nach Hollywood katapultierte. Der Sohn, der diesem Vater ein Gesicht gab, als er ihn dort fotografierte, im Hotelzimmer vor der Gardine, die Fliege nach der Oscarverleihung noch in der Hand. Im echten Leben bezichtigte Ulrich Mühe seine zweite Frau Jenny Gröllmann, ihn für die Stasi ausspioniert zu haben, was er später per Gerichtsbeschluss zu behaupten unterlassen musste. „Familie hat ja auch etwas mit Machtstrukturen zu tun – insofern bleibe ich meinem Thema treu.“
Natürlich fragte sich auch Mühe, ob die Öffentlichkeit ein Porträt der Familie Mühe braucht. Aber er sieht in der kleinen Zelle das Exemplarische für das Große. Man muss ein Thema „immer wieder anfassen wie einen Rosenkranz“, sagt Mühe. Wenn er sagt, dass er sich Zeit nimmt für eine Idee, spricht er von Jahren. Er weiß, dass das ein Luxus ist und dass das nur funktioniert, weil Mühe heute verbunden ist mit Sammlern, „die dankbar dafür sind, dass man für sie Reibung erzeugt“.
Reibung sagt er gern. Es ist eines seiner Lieblingswörter. Es kann Irritation bedeuten, Relevanz, vielleicht sogar Kunst. Nur dass Mühe der einzige Künstler ist, bei dem Reibung keine Wärme erzeugt.